Gießen . Ein Dienstagabend an der Miller Hall. Es herrscht ordentliches Gewusel, ein Kommen und Gehen, auf einer Platzhälfte trainiert ein Jugendteam der TSG Wieseck, deren Gelände derzeit saniert wird, auf der anderen Platzhälfte sind vier Trainer im Einsatz, um Kinder der G- und F-Junioren, vielfach in roten Shirts mit dem Schriftzug TS Gießen, in Bewegung zu bringen.
Viele Mütter und Väter stehen am Rand, beobachten die durch Pylonen mit Ball am Fuß sprintenden Nachwuchsdribbler.
»TS Gießen« fällt auf, springt ins Auge, man kennt die TSG Wieseck, den MTV Gießen, den FC Gießen, natürlich Blau-Weiß und viele mehr, aber TS Gießen ist zwar nicht brandneu, doch als geläufige Abkürzung in den heimischen Fußballköpfen noch nicht angekommen. TS ist die Abkürzung für Türkiyemspor, jenen 1977 gegründeten Verein, der sich derzeit einen neuen Anstrich verpasst, auf dem Weg zu einer neuen Identität ist. Eine Identität, die – so kann man dem 24seitigen und professionellen Portfolio entnehmen – Gießen in den Mittelpunkt rückt. Und die Bezeichnung Türkiyemspor nach fast 50 Jahren auf das TS reduziert.
Was keinen Abgesang auf die Wurzeln der Vereinsgründung darstellen, aber die Realitäten des Vereins im Jahr 2024 abbilden soll. Man spricht deutsch bei Türkiyemspor im Trainingsbetrieb, das Vorwort der Agenda, die das Leitbild vorgibt, beginnt mit »Türkiyemspor Gießen ist ein deutscher Fußballverein, der 1977 von türkischen Migranten in Gießen gegründet wurde«. Türkiyemspor, so ist herauszulesen, ist schon lange in der Stadtgesellschaft angekommen, will den soweit abgeschlossenen Integrationsprozess mit dem »TS« (»wir setzen uns mittlerweile aus 24, 25 Nationen zusammen«, sagt der angehende 2. Vorsitzende Metin Agman) aber noch deutlicher symbolisieren.
Das aber ist nur der formale Rahmen zur Erklärung, denn inhaltlich geht es um viel mehr für den Verein, der sich nicht nur ein theoretisches Gerüst geschaffen hat, sondern ganz praktisch unter dem Vorsitz von Halil Arslanparcasi, seinem Stellvertreter Agman und vielen Mitstreitern wächst und wächst. Der Gruppenliga-Aufstieg der 1. Mannschaft (»wir haben uns mit Patric Loeper jetzt ganz bewusst für einen deutschen Trainer entschieden«, so Agman), die damit die höchste Klasse in dem halben Jahrhundert ihrer Existenz erreicht hat, steht sinnbildlich für den Trend des mittlerweile 400 Mitglieder umfassenden Clubs. 190 Spieler sind aktiv, mit 40 Alten Herren hat TS Gießen fast ein Alleinstellungsmerkmal und, ganz entscheidend für die Zukunft, 120 Kinder der jüngsten Jahrgänge von G- bis D-Junioren kicken für den Verein. TS Gießen schafft das, was derzeit andernorts händeringend ge- und versucht wird: Eine gelingende Jugendarbeit.
Quasi aus dem Stand ist ein Gerüst entstanden, das bereits trägt, an diesem Dienstag aber auch ächzt unter den Bedingungen, die in Gießen wieder und wieder ein Thema sind. So müssen die E-Junioren mit an diesem Nachmittag über 20 Kindern auf den einen knappen Kilometer entfernten Rasen am Eulenkopf ausweichen, weil die Auslastung (siehe oben) mit den jüngeren Jahrgängen und Wieseck an der Miller Hall erreicht ist. Wie bestellt für den Termin klingelt irgendwann das Handy des 1. Vorsitzenden Arslanparcasi, er muss mal »kurz rüberfahren«, weil es zwischen dem ACE und dem TS-Nachwuchs wohl einen Disput über die Nutzung des Platzes gibt. Angesichts der Geschichte von Türkiyemspor Gießen klingt das fast schon wie eine Petitesse, denn auch zu seinem bald 50. Geburtstag, übrigens gibt es auch Quellen, die von dem Gründungsjahr 1974 und 1972 sprechen, aber 1977 ging es richtig los mit Fußball, ist TS Gießen weiterhin heimatlos.
Auch die Zuweisung an die Miller Hall ist ein Provisorium, über das die damalige Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz bei Vollzug sagte: »Es ist klar, dass Sie irgendwann einen festen Ort brauchen.« Und weil die Betonung der damaligen Aussage, wie so oft in der heiklen infrastrukturellen Gemengelage Gießens, auf »irgendwann« liegt, hat sich TS Gießen nun entschlossen, in die Offensive zu gehen. Denn heimatloser geht es kaum, sieben Umzüge mussten im Laufe der Jahrzehnte vollzogen werden, unter anderem an der Reichenberger Straße (im Käfig) hat man gespielt, am einstigen Bundeswehrkrankenhaus (heute Finanzamt), auf einem längst beseitigten Platz im Europaviertel, in Lützellinden und an der Ringallee, nun eben an der Miller Hall, »es ist ein Nomadenleben«, beschreibt Agman, der mit Arslanparcasi nicht nur die völlig unzureichenden Container (»das ist bei den wachsenden Zahlen nicht darstellbar«) bedauert, sondern auch die Tatsache, dass »wir kein Vereinsheim« haben. So etwas war an der Miller Hall nicht vorgesehen, sondern nur ein Gebäude mit Duschen und Umkleiden, das »für Vereinsversammlungen oder Elternabende nicht geeignet ist.« Vom normalen Vereinsleben ganz zu schweigen. Die (zeitliche und oft räumliche) Enge des Kunstrasens an der Miller Hall ist angesichts dessen, wie die Beschwerden von Arslanparcasi und Agman zeigen, nur ein Aspekt. In Zeiten, da der Verein gegen den Trend der einbrechenden Spieler- und Mannschaftszahlen, ein enormes Wachstum generiert, steht »offensichtlich weiterhin Tradition geht vor Kennzahlen«, wie Arslanparcasi angesäuert beschreibt, dass andere Vereine ohne oder mit nur unwesentlicher Jugendarbeit und vielleicht nur einer Aktivenmannschaft ausreichend Platz und ein Sportheim zur Verfügung haben. Dafür müsse es doch eine Lösung geben, betonen die TS-Macher, denen Kreisfußballwart Henry Mohr, der den Termin nutzt, um Arslanparcarsi für dessen Vereinsarbeit den HFV-Ehrenbrief zu überreichen, beispringt: »Man hat schon das Gefühl, dass Türkiyemspor Steine in den Weg gelegt bekommt, anstatt der Entwicklung entsprechend unterstützt zu werden.«
Als Kreisfußballwart sei er daran interessiert, »neben den Horrormeldungen, wer abmeldet und wo es nicht mehr weitergeht, genau diese positiven Beispiele hervorzuheben und entsprechend zu unterstützen.« Denn, das betonen Arslanparcasi und Agman, das Ende der Fahnenstange sei bei TS Gießen noch lange nicht erreicht. In den nächsten fünf Jahren wolle man »langsam aber sicher auch C-, B- und A-Junioren etablieren«, dabei schafft es der Verein lobenswerterweise, nur ausgebildete Übungsleiter einzusetzen (»gerade haben sich wieder vier angemeldet, damit sie mindestens den Basis-Coach mit dem späteren Ziel C-Lizenz haben. Wir haben sehr motivierte Leute«). Man lege die Jugendarbeit »nicht nur auf sportlichen Erfolg« an, denn »wir wollen den Jugendlichen auch Werte vermitteln für ein friedliches Zusammenleben«, sagt Agman, der von Beruf Lehrer ist, und betont, dass »wir für den Verein eine konkrete Vision aufzeigen, was ja eigentlich auch im Interesse der Stadt liegen müsste«.
Dass die mangelnde infrastrukturelle Ausstattung Türkiyemspor seit der Gründung begleitet, ist kein Ruhmesblatt für eine Stadt, die mit der von Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher initiierten Sportstättenplanung, deren Vorstellung noch keine drei Wochen zurückliegt, jetzt eine Ideensammlung und ein Instrumentarium aufgelegt hat, das (visionär) Chancen aufzeigt. »Das ist bis 2040 geplant, wir brauchen aber kurz- bis mittelfristig Abhilfe«, sagt Agman. Und Arslanparcasi weist darauf hin, dass »das ja nicht alle Baustellen sind«. Für die »manchmal 200, 300 Zuschauer in der Gruppenliga wurde uns schon gesagt, dass das Ordnungsamt da auch mal hinschauen werde wegen Falschparkern. Wir versuchen hier alles, aber die Möglichkeiten sind einfach nicht ausreichend vorhanden«, so Arslanparcasi der sich wünschte, dass Vereinsbelange mehr Berücksichtigung finden würden und einem »nicht das Gefühl vermittelt werden sollte, dass man für ehrenamtliche Arbeit um alles betteln muss, oder fast noch bestraft wird.«
Skurril erscheint dabei, was die TS-Funktionäre en detail über die Jugendtrainingssituation berichten. So sei ihnen seitens des Sportamtes untersagt worden, mit der Jugend nebeneinander parallel auf Platzbreite zu spielen, weil es Beschwerden gegeben habe, dass die über den Zaun fliegenden Bälle die auf dem nebenliegenden Firmenparkplatz abgestellten Fahrzeuge beschädigen könnten. »Also können wir bestimmte Trainingsformen nicht machen«, sagt Arslanparcasi und lacht bitter. Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher und Sportamtsleiter Tobias Erben hätten aber nun bei einem Gespräch zugesagt, den Zaun an der neuralgischen Stelle zu erhöhen. Immerhin scheint damit die seltsamste Kuh vom Eis, ansonsten aber sieht sich TS Gießen weiterhin mit einer Herde von Problemen konfrontiert, denn »wir sind aus dem Gespräch mit Herrn Becher und Herrn Erben mit keinem guten Gefühl rausgegangen«, meint Agman nachdenklich, dass sich aus dem Treffen »wohl keine kurz- oder mittelfristige Lösung ergibt«. Und ergo auch keine adäquate Heimat für den stetig wachsenden Verein TS Gießen am Horizont zu sehen ist.
»Wir gratulieren Türkiyemspor Gießen zur Vereinsentwicklung und den damit einhergehenden sportlichen Erfolgen. Der stark wachsende Jugendbereich mit insgesamt zehn Jugendteams (…) sowie die erfolgreiche 1. Mannschaft (Gruppenliga), 2. Mannschaft (Kreisliga B) und eine Alt-Herren-Truppe sorgen für eine erhebliche Ausweitung des Trainingsbedarfes. Aktuell verfügt Türkiyemspor über 16 Trainingseinheiten auf dem kommunalen Kunstrasen »An der Volkshalle«. Weitere Platzbelegungen sind möglich, wenn die TSG Wieseck den zweiten vereinseigenen Kunstrasenplatz Ende Oktober fertig erstellt hat. Dann sind bis zu neun zusätzliche Trainingseinheiten »An der Volkshalle« für Türkiyemspor möglich.
Darüber hinaus sind im Zeitfenster Frühjahr bis Herbst auf dem Sportplatz »Heyerweg« in Abstimmung mit dem ACE Gießen weitere Trainingseinheiten möglich.
Mittel- bis langfristig wird bei einer weiteren Vereinsentwicklung von Türkiyemspor Gießen dies auch nicht ausreichen. Der Wunsch nach einem eigenen Sportplatz mit dazugehörendem Vereinsheim ist daher nachvollziehbar. Schon vor mehreren Jahren haben wir den Sportplatz in Lützellinden vorgeschlagen, den der Verein aber als für sich ungeeignet ablehnt. Im Rahmen der aktuellen Sportentwicklungsplanung gibt es verschiedene Vertiefungsschwerpunkte. Mindestens einer könnte für Türkiyemspor perpektivisch sehr interessant sein. Hier sind Gespräche mit allen Beteiligten im Sport und darüber hinaus mit weiteren Akteuren in der Stadt zu führen. Für eine Finanzierung wird es dazu Eigenmittel des Vereins und öffentliche Fördergelder brauchen. Klar muss allen Beteiligten sein: Die Kapazitäten auf unserem städtischen Kunstrasen »An der Volkshalle« sind begrenzt. (…)
Wir nehmen den Wunsch von Türkiyemspor nach einem eigenen sportlichen Zuhause für den Verein sehr ernst. Wir sind daher schon seit längerem im Gespräch mit den Vereinsverantwortlichen. Mit den Erkenntnissen aus der aktuellen Sportentwicklungsplanung gilt es die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen und eine Umsetzung von Maßnahmen auf den Weg zu bringen.
Quelle: https://www.giessener-anzeiger.de/sport/lokalsport/wachstum-ohne-sportheim-at-93299584.html